2006, 5 diptychs each comprising 2 color photographs
(each 45 x 60 cm), framed; 5 texts under glass,
each 14 x 21 cm; 1 photocopy under glass,
29,7 x 42 cm; 2 texts under glass, 29,7 x 21 cm
Photo: Norbert Miguletz, Frankfurter Kunstverein, Frankfurt, 2010 and Kunstmuseum Magdeburg, 2021
1.) Im Frühjahr 2005 stieß ich im Internet zufällig auf das nebenstehende Foto. Ich recherchierte die Herkunft des Bildes – es erschien erstmals am 2. Mai 2002 in der Sächsischen Zeitung, Lokalteil Weißwasser, mit folgender Bildunterschrift: „Am Dienstagmorgen gegen sechs Uhr macht Schäfermeister Frank Neumann eine grausige Entdeckung: Auf einer Weide nahe der ehemaligen Kohlebahn bei Mühlrose liegen knapp 20 Schafe weit verstreut in der Wiese. Kein Anblick für zartbesaitete Mitmenschen. Den Tieren wurde die Kehle durchgebissen. Ein Schaf wurde fast komplett aufgefressen. Bei den gerissenen Schafen handelt es sich ausnahmslos um Muttertiere. Einige waren trächtig. Für die Beseitigung der Kadaver stellte die Gemeinde einen Traktor bereit.“
3.) Im weiteren Verlauf meiner Recherchen fand ich eine Presseerklärung des Sächsischen Umweltministeriums vom 13. Juni 2001, deren Wortlaut nahezu unverändert am 14. Juni 2001 in der Lausitzer Rundschau wiedergegeben wurde: „In einem etwa 700 Quadratkilometer großen Gebiet, das sich von der polnischen Grenze bis nach Weißwasser erstreckt, hat sich offenbar ein Wolfsrudel angesiedelt. Die Elterntiere folgten einer alten Wolfsroute, die von Rumänien über Polen in die Lausitz führt.“ Einen Tag später meldete die Sächsische Zeitung: „1850 wurde in der Lausitz der letzte Wolf Deutschlands erlegt. Nach 150 Jahren kehren die nachtaktiven Tiere nun in ihr angestammtes Gebiet zurück.“
4.) Bei der Sichtung des gesamten Pressematerials fiel mir irgendwann auf, dass es bis heute keine Fotografie eines nachts streifenden deutschen Wolfes (Bild) gibt. Artikel werden meist mit Aufnahmen von in Gefangenschaft lebenden Tieren illustriert. Im Dezember 2005 erkundigte ich mich deshalb beim Wolfsbüro des Freistaats Sachsen – und in der Tat: die Bewegungen des Rudels, das Jagdverhalten der Tiere im Streifgebiet Lausitz, konnten bisher nur anhand von Spuren – Fährten, Losungen, Wildkadavern – rekonstruiert werden. Ebenso wenig existieren historische Fotografien streifender Wölfe, da die Tiere bereits ausgerottet waren, als sich die fotografische Technik etablierte.
5.) Ich war wie berauscht. Im Januar 2006 beschloss ich, entlang der Wolfsroute zu wandern. Ich las mich in die einschlägige Fachliteratur ein und ließ mir von einem Lausitzer Förster sogar das Fährtenlesen beibringen. Um die Tiere anzulocken, empfahl er mir, das Heulen der Wölfe zu imitieren.
6.) Ende Mai 2006 besorgte ich mir eine Infrarotkamera und startete am 12. Juni 2006 im Ort Podrosche an der polnischen Grenze. Nach fünf Nächten erreichte ich am 17. Juni den 80 Kilometer weiter westlich gelegenen Ort Zosel bei Weißwasser, wo sich mittlerweile ein zweites Rudel angesiedelt hatte.
Die Wolfsroute ist ein Sandweg, der fast ausnahmslos durch Kiefernforst und Birkenwälder führt. Ich startete immer mit Einbruch der Dunkelheit und orientierte mich dann durch den Sucher der Kamera. Das Ziel jeder Nacht legte ich laut Karte fest: meist eine Wegkreuzung, an der ein kleiner Ort oder wenigstens einzelne Gebäude eingezeichnet waren.
7.) Um es vorwegzunehmen: es war sehr ruhig im Wald. Auf den einzelnen Wanderungen sah ich nur Rehe, eine Wildschweinrotte und einen kleinen Fuchs. Dennoch machte ich eine seltsame Erfahrung: Immer dann, wenn ich den jeweiligen Zielort erreicht hatte, vernahm ich Geräusche im Dunkel. Ich fotografierte dann in diese Richtung – in der Hoffnung, später etwas in der Vergrößerung des Bildes entdecken zu können. Natürlich war es möglich, dass ich mir all das bloß einbildete, aber am nächsten Morgen fand ich – wie zum Beweis – genau dort die typischen, geschnürten Fährten der Wölfe. Ich gehe also heute davon aus, nur an diesen Orten den Tieren wirklich nahegekommen zu sein. Und es scheint mir, als hätten mich die Wölfe hier bereits erwartet. Um den Grund dafür heraus zu bekommen, habe ich mich im Nachhinein näher mit diesen Orten beschäftigt. less
3.) Continuing with my research, I found a press release by the Saxon Ministry of the Environment dated June 13, 2001, which was repeated more or less word for word on June 14 in the Lausitzer Rundschau, “It appears that a pack of wolves has settled in an area covering approximately 700 square kilometers, stretching from the Polish border to Weißwasser. The adult animals followed an old wolf route leading from Rumania through Poland into Lusatia.” One day later, the Sachsische Zeitung announced “The last wolf in Germany was killed in Lusatia in 1850. Now, 150 years later, these nocturnal animals have returned to their ancestral territory.”
4.) At some point while I was sifting through all these press clippings, I noticed that there was not a single photograph of a night-prowling German wolf (Bild). Newspaper articles were usually illustrated with pictures of animals living in captivity. So in December 2005 I made some inquiries at the Wolf Bureau of the Free State of Saxony. There it was officially confirmed that the movements of the pack of wolves and their hunting behavior in Lusatia had been reconstructed solely on the evidence of what the wolves had left behind: tracks, droppings, and the remains of their prey. Of course there are no historical photographs of wolves on the prowl, as the animals had been wiped out by the time photography was widely established.
5.) I was obsessed. In January 2006 I decided to walk along the wolves’ route. I read up on all the relevant literature and had a Lusatian forest ranger teach me how to read tracks. He advised me to imitate the wolves’ howl in order to attract the animals.
6.) In late May, 2006 I got myself an infrared camera. And on June 12, 2006 I started walking from the town of Podrosche on the Polish border. After walking for five nights, I reached Zosel near Weißwasser on June 17, eighty kilometers to the west, where in the meantime a second wolf pack had settled.
The wolf route is a sandy path, almost exclusively leading through pine forests and birch woods. I always began walking at dusk, using the viewfinder on the camera for orientation. With the help of a map, I picked my goal for each night, usually choosing a crossroads where there was a small settlement, or at least a few buildings.
7.) To get straight to the point: it was very quiet in the forest. On my nightly walks I saw nothing but deer, a herd of wild boar and a small fox. And yet I did have a rather strange experience: every time I reached my destination, I heard noises in the dark. I photographed into the general direction the sounds were coming from, hoping to discover something later when I enlarged the pictures. Of course, I could have imagined it all, but the next morning I always found—like some kind of proof—the typical laced wolf tracks in exactly the area I had photographed. Today I believe that I only came really close to the wolves at these places. They almost seem to have been waiting for me there. In an attempt to discover why, I retrospectively looked for more information about my five destinations. less
Auf der Gemeindesitzung am 21. März 2001 beschlossen die 34 stimmberechtigten Einwohner Walddorfs die Umbenennung ihres Ortes in Forest Village. Über die Hälfte von ihnen hatte ein Jahr zuvor die Arbeit im Braunkohletagebau Nochten verloren und war seitdem auf der Suche nach einer neuen Existenzgrundlage. Forest Village sollte sie liefern: Westernstadt und Erlebnisgastronomie, Naturerlebnis und eigene Bisonherde. Innerhalb von zweieinhalb Jahren wurde der Ort vollkommen umgebaut – alles in Eigenleistung. Das Haus des Gemeindevorstehers wurde zum Sheriff-Haus, andere Häuser zum Candy-Shop oder zur Beer-Bar. Am 6. Oktober 2003 wurde feierlich das Southern Cross gehisst und Forest Village eröffnet. Der Ort wurde in der ersten Zeit viel besucht, es gab diverse Countrykonzerte, abends Lagerfeuer. Es soll sogar ein Goldschürfen im Dorfteich angeboten worden sein. Mittlerweile ist es im Ort aber wieder ruhiger geworden. Dennoch: die Einwohner sind – laut eigener Aussage – „noch immer im Fieber.“ Das geht so weit, dass sie Cowboyhüte tragen, selbst die alten Leute.
Forest Village (June 15, 2006, around 2:00 am)
On March 21, 2001, at a town council meeting in Walddorf (meaning village in the woods) the 34 voting-age village members passed a resolution to rename the town Forest Village. Over half of them had lost their jobs at the brown coal mine Nochten a year before and since then had been looking for a new source of income. Forest Village—a Western-style village and gastronomic experience, and a nature reserve with its own herd of bison—was going to deliver just that. Over the next two and a half years the villagers themselves completely reconstructed the village. The house of the district councilor became the sheriff’s house; other buildings were made into candy shops or beer bars. On October 6, 2003, the Southern Cross was ceremoniously hoisted and Forest Village was officially opened. In the beginning it attracted many visitors. There were various country music concerts and campfires in the evenings. Supposedly, there was even a sifting-for-gold session in the village pond. Lately the place is quieter again. But the inhabitants say that they are still “totally into it.” So much so that they go around wearing cowboy hats, even the senior citizens.